Sonntag, 26. Dezember 2010

Erich Bethe, Die dorische Knabenliebe.

DIE DORISCHE KNABENLIEBE
         IHRE ETHIK UND IHRE IDEE

In: Rheinisches Museum für Philologie; Frankfurt a. M.; Jg. 1907, S. 438-475


Die Knabenliebe ist eine der auffallendsten Eigenthümlichkeiten der älteren griechischen Cultur. Ganz ehrlich und unumwunden wird das kaum ausgesprochen, aber niemand wird's leugnen. Um so mehr muss man sich billig wundern, wie unsicher die Stellung der Forscher zu ihr ist. Noch ist nicht einmal das Material gesichtet, noch ist nicht versucht, die Päderastie als staatliche Institution der Dorer in ihren Formen zu zeichnen, in ihrem Wesen zu verstehen. Als Problem geschichtlicher Erkenntniss ist die griechische Knabenliebe allein von Welcker und C. O. Müller aufgestellt, aber nur eben gestreift 1, seitdem ist sie

_________________________________________________________________________________

1 Welcker, 'Sappho von einem herrschenden Vorurtheil befreit‘ S. 32 IT. == Kl. Schrift. II 80 II`. 1823; C. O. Müller, Dorier II2 (1844), S. 285-293. Er hat richtig empfunden (S .289 f.), dass ‚eine solche das ganze Leben durchdringende Sitte tiefer wurzeln muss, als auf einem einzelnen Institut, einer einzelnen Ueberlegung’. Und treffend urtheilt er, ‘dass diese Empfindung nicht bloss geistig, dass sie auch sinnlich war . . . war durchaus nothwendig in einer körperliches und geistiges Dasein noch wenig zu trennen gewohnten Zeit’. Schliesslich komrnt er dann aber doch, verführt durch Xenophons Schönfärberei  und durch seine idealische Anschauung alles Griechischen, die in seiner Zeit lag, zu der uns Heutige, die wir durch vergleichende Sittenkunde erzogen sind, wunderlieh anmuthenden Ansicht (S. 292), ‚dass dies eigenthümliche Verhältniss sich bei den nordhellenischen Völkerschaften durchaus unbefangen und edel gebildet hatte, ehe Knabenschänderei, ,wahrscheinlich von Lydien her, in Griechenland bekannt geworden war‘,   also zuerst ein ideales Verhältniss, dann Hinabsinken aus paradiesischer Reinheit in die Sinnlichkeit. Die hauptsächlichstcn Arbeiten über  Päderastie sind seit O. Müller u. Welcker der Artikel von M. H. E. Meier in der Hall. Encykl. Sect. III Bd. IX 149-189, A. Becker und K. I . F. Hermann Charikles II2 199-230, wo such (S.227 ff.) die Litteratur verzeichnet ist, Symonds in Ellis-Symonds: Das konträre Geschlechtsgefühl (Deutsch in Bibl. f. Socialwissenschaft VII 1896, S. 37-126).

_________________________________________________________________________________

S. 439

in diesen 80 Jahren vielseitiger und erfolgreicher Arbeit meines Wissens ernstlich nicht wieder angefasst worden. Eher noch ihre natumothwendige Ergänzung, die homosexuelle Mädchenliebe. Aber auch sie meist nicht recht. Denn fast stets mischt sich in die Aeusserungen — such die neuesten  — der moralische Ton, der Todfeind der Wissenschaft: verstehen soll sie, nicht richten.     

Der mild entschuldigende Ton freilich ist noch schlimmer.  Die Griechen bedürfen keiner Entschuldigung. Für das antike Mittelalter, das siebente, sechste und den grösseren Theil des fünften Jahrhunderts ist Knaben- und Mädchenliebe bei vielen Griechen keine Schande, kein Laster, sondern wie nur je die geschlechtliche Liebe neben der Sinnenlust auch eine lautere Quelle zarter inniger Empfindungen, aufopfernder Hingabe, idealer Erhebung. Es muss doch einmal offen ausgesprochen werden:  die gleichgeschlechtliche Liebe ist es, die den Griechen die Herzen geöffnet, ihre erotische Poesie hervorgebracht hat. Und als in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts zu Athen die moralische Opposition einsetzte — veranlasst nicht von der Religion, sondern von der allseitigen Hebung der Cultur, der geistigen und sittlichen Befreiung, geführt von den vielgeschmähten, in Wahrheit unvergleichlich verdienten Sophisten — da hat Sokrates, da hat Plato von diesem seltsamen Baume, dem nun die Axt die    Wurzel zerschnitt, seine köstliche Frucht gebrochen und geborgen und neu ausgesät: wer je geforscht und sich dadurch freigemacht, wer je gelehrt und je geliebt — aber freilich nur ein solcher  —  der muss die platonische Erotik verstehen können und er wird ahnen, dass auch die ältere Knabenliebe etwas Heiliges hatte, also aus heiligem Samen, nicht aus Gemeinheit entsprungen war.   


Es ist doch etwas Seltsames diese griechische Knaben- und Mädchenliebe, vielleicht das Seltsamste an dieser wunderbaren griechischen Cultur. Ueberall in der Welt giebt es gleichgeschlechtige Liebe, und sie fängt nicht erst beim Menschen an, der gewaltige Naturtrieb erzwingt sie in der Noth2. In allen Formen, von der harmlos zarten Neigung der unbewussten noch knospenden Jugend bis zur sinnlichen Glut derer, die vom Baume der Erkenntniss gegessen, lebt sie heute noch ebenso wie jemals bei uns und überall. Es giebt manches auf Erden, was nicht in   

_________________________________________________________________________________


2 Ellis-Symonds, aaO. S. 1 ff, Karsch: Päderastie und Tribadie bei den Thieren (Jahrb. f. sexuelle Zwischenstufen II, 1900, S. 126 ff.);  bei den Naturvölkern (ebenda III). Vgl. B. Friedländer ebenda VI 2l0.    

_________________________________________________________________________________

S. 440



Büchern und Akten steht  —  von ihr aber steht freilich auch oft genug geschrieben. Doch mit der fröhlichen Offenheit und stolzen Selbntverständlichkeit wie bei den Griechen ist sie meines Wissens nur noch einmal  —  aber nur die Knabenliebe  —  in der arabischen Litteratur seit der Abassidenzeit und in der persischen3 behandelt, auch da zu zarter Empfindung und hoher Schönheit ausgebildet. Aber sie ist hier nur das poetische Spiel eines missleiteten Triebes; verbietet sie doch der Koran. In der dorischen Cultur des antiken Mittelalters ist sie ein öffentlich anerkanntes, heiliges, Grund legendes und Leben bestimmendes Element. Schon deshalb konnte der immer wieder gemachte und nächstliegende Versuch, die griechische und jene persisch-arabische Knabenliebe aus denselben gesellschaftlichen Verhältnissen, der Abschliessung der Frauen, zu erklären, nicht zu einem befriedigenden Ergebniss gelangen. Er scheitert vollkommen an der Thatsache, dass gerade in Sparta und in Lesbos, wo uns die Knaben- und Mädchenliebe am besten bekannt ist, die Geschlechter, soviel wir wissen, freier als in den anderen Griechenstaaten mit einander verkehrt haben. Es ist wirklich die griechische Knabenliebe eine einzigartige Erscheinung. Desto dringender nur ist ihre Darstellung zu fordern, zumal sie bisher überall, auch in der Litteraturgeschichte, die eigentlich ohne sie kaum verständlich ist, einfach übergangen wird; das Material ist reicher und vor allem ergiebiger, als es zunächst scheint. Dann darf auch eine Erklärung versucht werden. Ich will den Versuch wagen, auch auf die Gefahr zu irren. Wenigstens wird er das eine Verdienst behalten, gezeigt zu haben: hier liegt ein Problem vor, das einer anderen Erklärung als der physischen bedarf.

*  *  *

Zunächst ist eine wichtige Thatsache festzulegen: die Knabenliebe ist von den ‚Dorern‘, von den zuletzt in Griechenland ein-

_________________________________________________________________________________

3 Vgl. zB. P. Horn  Gesch.der persischen Litteratur (1901) S. 78 u. 120. Ueber heutige Verhältnisse vgl. P. Näcke Homosexualität im Orient (Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalstatistik von. Gross XVI p. 353 ff). In Indien verpönt, wird die Päderastie im indischen Archipel auch bei muhamedanischen Völkern ganz offen betrieben. Bei den Olo Ngadju 'ist sie so allgemein verbreitet, dass manche 'basirs’ (Schamanen) förmlich an andere Männer verheirathet sind‘: Rich. Schmidt, Liebe und Ehe in Indien, 1904 S. 263 vgl. S. 260. S. unten Anm. 76.

_________________________________________________________________________________

S. 441

gewanderten rohen Gebirgsstämmen eingeführt, die sich von Nordwesten her über das Mutterland und die südlichen Inseln bis nach Kleinasien ausbreiteten und dann als Eroberer herrisch über  den geknechteten Resten der älteren Bewohner sassen. Nicht als ob ein solcher Verkehr vor ihnen ganz unbekannt gewesen wäre. Das wäre kaum wahrscheinlich. Sondern was die Dorer brachten, war die Knabenliebe als eine öffentlich anerkannte und ehrenwerthe Einrichtung. Homer erwähnt niemals, auch nicht mit leiser Andeutung, ein päderastisches Verhältniss: also war bei den asiatischen Aeolern und Ioniern die legitime Päderastie damals unbekannt gewesen. Sie war es auch bei ihren im Mutterlande zurückgebliebenen Stammesgenossen. Denn wie stark der Abscheu gegen diese als gottsträfliches Laster empfundene Sitte war, zeigt deutlich die eigenthümliclne in Böotien entstandene Umwandlung der Oedipussage, die ich für das Epos der Oedipodee nachgewiesen habe4. Nicht zum wenigsten zeigt sich der grosse Einfluss, den diesen Dorern ihre kriegerische Tüchtigkeit, ihr geschlossener Verband, ihr Herrenreichthum und Herrenstolz im  griechischen Mittelalter verschafften, darin, dass sich trotzdem mit andern dorischen Einrichtungen und Anschauungen auch ihre Päderastie auf die Nachbarstaaten besonders im Mutterlande verbreitete. —  Die Chalkidier auf Euböa blieben sich lange bewusst, dass die durch öffentliche Anerkennung legitimirte Knabenliebe bei ihnen von aussen eingeführt worden sei5. — In Athen6 war sie zu Solons Zeit so tief eingedrungen und so durchaus als ehrbar anerkannt und empfunden, dass er, dieser Typus eines ehrenfesten Altatheners, sie als selbstverständliche Jugendfreude mit anschaulicher Deutlichkeit zeichnen durfte (fr. 25 B 4):  

εσθ' ηβης ερατοισις επ' ανθεσι παιδοφιληση
μηρων ιμειρων και γλυκερου στοματος.

Er behielt sie durch seine Gesetzgebung ebenso wie die Gymnastik dem freien Manne vor, verbot sie dem Sclaven7. Und so   

_________________________________________________________________________________


4 S. meine thebanischen Heldenlieder S. 1 ff. und S. 143.  5 Plutarch Erotic. 751 A ff., dazu Athen. XI 601 E; vgl. Hubert:  de Plutarchi Amstorio, Berlin. Diss. 1903 p.11.  6Die älteste athenische Inschrift auf der Dipylonkanne (Athen. Mitth. VI, 1881 p. 106 Taf. III = CIA. IV 1 p. 119 Nr. 492a, genauer  Athcn. Mitth. XVIII, 1893 p. 225 Taf. X mit Studniczkas Lesung) auf  Knabenliehe zu beziehen, könnte die Vergleichung mit den Felsinschriften auf Thera IG. XII 3. 1536 ff. nahe legen.   7 Belege siehe unten Anmerkung 47.

_________________________________________________________________________________

S. 442

blieb es in Athen bis - in die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts. Die Vasen jener Zeiten mit den Lieblingsaufschriften  illustriren [es] am besten. Aber auch die höchste Kunst hat sie nicht verschmäht: haben sich doch Aischylos und Sophokles mit gleicher Offenheit und Anschaulichkeit wie Solon über Knabenliebe in Tragödien ausgelassen. Und es ist so wenig bei Aischylos wie bei Sophokles zu bezweifeln, dass sie der Knabenliebe auch im Leben gehuldigt. Selbstverständlich hat auch der junge Plato diese Liebe und ihre heisse Leidenschaft gekostet — wie hätte er sie sonst so hinreissend schildern können und so schwer und ernst den Kampf gegen diese Sinnlichkeit? — Auch die äolischen Ritter in Lesbos heben ihr um 600 bei ihrer Bewunderung für spartanisches Wesen (Alkaios 49) sicherlich gehuldigt (Alkaios 57), obgleich sie in ihrer Poesie nicht stark hervortritt. Aber die durch Sappho bekannten eng geschlossenen Weiberbünde setzen ja doch einen ebenso engen Zusammenschluss der Männlichkeit voraus, wie diese ja auch in Sparta ihr Gegenbild in den weiblichen Genossenschaften haben 8. — Ebensowenig fehlen Spuren bei den Ioniern in dieser Zeit, Mimnermos (1. 9) und Anakreon behandeln sie ebenso heiter und anmuthig wie die geschlechtliche Liebe.

Es ist also damals, wie dorisches Ritterthum überhaupt, auch die Knabenliebe bei allen Griechen Mode. Aber nirgends anderswo ist sie, soviel wir sehen können, wie bei den Dorern eine vom Staate gebilligte, ja geforderte, in festen Formen sich entwickelnde, von der Religion geheiligte Einrichtung. Die Zeugnisse bestätigen, was Plato im Gastmahl den Pausanias sagen lässt in engem Anschluss, wie es scheint, an dessen Büchlein über die Knabenliebe9 (Sympos. 182 A): ‚Die Ansicht über die Knabenliebe ist in den anderen Staaten leicht erkennbar, denn sie ist einfach und bestimmt; hier aber in Athen ist sie mannigfach10. In Elis nämlich und bei den Böotern und wo sonst die Leute nicht zu reden verstehen, gilt es unbedingt als gut, sich einem Liebhaber

_________________________________________________________________________________


8 Vgl. ausser C. O. Müller und Welcker auch Diels Alkmans Partheneion Hermes XXXI, 1896, S. 352-355. 9Vgl. Xenophons Sympos. VIII 34 f. mit Platons Sympos.189 B, 178 E.
10 ο δ' ενθαδε και εν Λακεδαιμονι, Cdd. Winckelmanns Streichung von mi και εν Λακ. ist nothwendig, weil Plato gerade auf Lakedaimon allein nacher mit keinem Wort Bezug nimmt.

_________________________________________________________________________________ 
S. 443

hinzugeben, und niemand, weder alt noch jung, würde das schmählich nennen; und zwar zu dem Zwecke, glaub’ ich, dass sie keine Umstände haben bei dem Versuche, Knaben zu überreden, da sie ja zu reden unfähig sind. Für schmählich gilt es aber vieler Orts im kleinasiatischen Ionien und anderwärts, soweit Griechen unter Barbarenregiment wohnen. Denn die Barbaren verurtheilen sie ebenso wie die Bestrebungen auf Bildung und Gymnastik in Rücksicht auf ihre Gewaltherrschaft.‘ 

Ueber die Knabenliebe in den  d o r i s c h e n  Staaten liegen bis auf Kreta nur spärliche Aeusserungen, meist abgerissene  Notizen vor, doch genügen sie immerhin zum Beweise, dass sie in ihnen allen auf denselben Anschauungen beruhte, in gleichem hohen heiligen Ansehen stand und wohl auch in denselben Formen sich darstellte. Sie stammen alle vom Ende des 5. und 4. Jahrhunderts aus dem damals lebhaft geführten Kampf um die Knabenliebe oder aus politischen und historischen Schriften: die weitere Discussion hat immer mit demselben Material gewirthschaftet. Dabei hat die reactionär philosophische Modebegeisterung dieser Zeit für die ins Ideal erhobene Gesellschaftsgestaltung in Sparta und Kreta auch die dortige Uebung der Päderastie ‚platonisch’ verklärt, während Elis und Böotien nach dem Vorgange des Atheners Pausanias immer wieder als Beispiele derjenigen Staaten vorgeführt wurden, in denen die Knabenliebe in unbemäntelter Sinnlichkeit anstandslos geübt werde11. Dass in Wirklichkeit die Kreter und Spartaner sie nicht anders als jene aufgefasst haben, das hätte doch nie des Beweises bedurft, hätte nicht die Theorie vom hellenischen Idealvolke die Augen auch für die natürlichsten Dinge so getrübt, dass selbst nüchterne Gelehrte wie M. H. E. Meier12 schliesslich zum Ergebniss kommen konnten, es sei die sinnliche Knabenliebe in Sparta zwar gesetzlich verboten gewesen,  aber leider sei doch wohl häufig genug dagegen gefehlt worden.   

In der That aber wischen Platos herbe Worte (Gesetze p. 636 und p. 836 ff.) und die Bemerkung des Aristoteles (Politik II 10 p. 1272 B 23), der kretische Gesetzgeber habe die Knabenliebe 

_________________________________________________________________________________

11Doch hat es auch nicht ganz an Versuchen gefehlt, die böotische Päderastie zu idealisiren: so die Anekdote von Philipp bei Chaironeia, die Plutarch Pelopidas 18 a. E. mit patriotischem Behagen erzählt.   12 In dem fleissigen Artikel Päderastie bei Ersch und Gruber, Hall. Encyklopädie, III. Section, 9. Theil (1837).  

_________________________________________________________________________________

S. 444

eingeführt, um die Uebervölkerung zu verhindern13, die Schönfärberei des Ephoros aus (bei Strabo X 484). Anderseits hebt die Darstellung der spartanischcn Verhältnisse in Plutarchs Lykurg (bes. c. 18 a. E.), wo sogar die Mädchenliebe offen bezeugt wird, die kecke Behauptung des Sokratikers Xenophon (Rpbl. Laced. II 14) von der idealen Liebe der Spartiaten14 schon allein auf, wie ja eigentlich auch der ekelhafte Vermittelungsversuch zwischen jenem Idealismus und der rohen Wirklichkeit, den Cicero Rpbl.IV 4 bewahrt hat: Lacedaemonii ipsi cum omnia concedunt in amore iuvenum praeter stuprum, tenui sane muro dissaepiunt id quod excipiunt; complexus enim concubitusque permittunt palliis interiectis.

Die Dorer haben das Liebesverhältniss des Mannes zum Knaben in festen Formen geregelt und es als eine ihnen sehr wichtige Einrichtung mit ehrbarem Ernst ganz öffentlich behandelt unter dem Schutze der Familie, der Gesellschaft, des Staates, der Religion. Ueberall bei ihnen, wo nur mehr als die nackte Thatsache überliefert ist, in Sparta, Kreta, Theben, ergiebt sich klar, dass die Erziehung zur αρετη in der Herrenkaste auf der Päderastie beruhte15, also die Mannestüchtigkeit, die sich hauptsächlich im Kriege zeigt, ihre Ausbildung und Erhaltung, denn über diese mittelalterlich ritterliche Enge des Begriffes hinaus haben es die dorischen Staaten nie gebracht und konnten es nicht bringen, so lange jene Anschauungen bestanden. Die höchste Ethik und Weisheit, die Theognis zu bieten hatte, wusste er nicht besser einzukleiden, als in Mahnworte an einen geliebten Knaben: der ist der Erbe seiner αρετη.

In Sparta waren die Liebhaber für ihre Geliebten, die vom zwölften Jahr an mit ihnen verkehrten, so sehr verantwortlich,

_________________________________________________________________________________

13 Vgl. dazu Plato Leg. 838 E f.: … ...τεκνην εγω προς τουτον τον νομον εχοιμι του κατα φυσιν χρησθαι τη τησ παιδογονιας συνουσια, του μην αρρενος απεχομενονς μη κτεινοντας τε εκ προνοιας το των ανθρωπων γενος, μηδ' εις πετρας τε και λιθους σπειροντας ου μηποτε φυσιν την αυτου ριζωθεν ληψεται γονιμον.14 Wiederholt von Plutarch De educandis pueris 14 (Instituta Laconica 7 p. 337 C), Aelian VH III 12, Maximus Tyrius Diss. 26,8. 15 Xenophon Laced. Rpb. II 13: ο δε Λυκουργος, ... ει μεν τις αυτος ων οιον δει αγασθεις ψυχην παιδος πειρωτο αμεμπτον φιλον αποτελεσασθαι και συνειναιεπηνει και  κ α λ λ ι σ τ η ν   π α ι δ ε ι α ν  ταυτην ενομιζεν. Vgl. Pausanias von Athen bei Xenophon Sympos. VIII 32 ff. und bei Plato Sympos. 182 B, 178 E; Plutarch Pelopidas 19.

_________________________________________________________________________________

S. 445

dass für eine unehrenhafte Handlung ihres Geliebten sie, nicht dieser, bestraft wurden16. Und der Liebhaber war es neben des Knaben Verwandten, der seinen Geliebten bei allen Geschäften  auf der Agora vertrat, zu der jener bis zu seinem dreissigsten Jahre nicht Zutritt hatte17: geradezu ist also der Erastes dem Vater und den älteren Brüdern seines Eromenos rechtlich gleichgestellt, sogar über sie gesteilt, da er eine Verantwortung für ihn trägt, die dessen Familie nie aufgebürdet ist. In der Schlachtreihe stellte Sparta freilich zu Xenophons Zeit die Liebespaare nicht grundsätzlich zusammen18; ich möchte behaupten nicht  m e h r, denn die Eleer und Thebaner thaten es sicher am Ende des 5. Jahrhunderts, wie durch das Zeugniss des Atheners Pausanias in seinem Buche über die Liebe feststeht19, und die Thebaner thaten es noch zur Zeit des Pelopidas und Epameinondas, und noch 338 in der Schlacht bei Chaironeia20. Dass es bei den Kretern üblich war, zeigt die kretische Benennung des geliebten Knaben παρασταθενς. Der von Pausanias angegebene Grund ist völlig überzeugend: jede Handlung, die irgendwie den ritterlichen Ehrbegriffen nicht entsprochen hätte, war ausgeschlossen durch das heisse Bestreben des Mannes, seinem Geliebten das Vorbild wahrer αρετη zu sein, und nicht weniger durch das Pflichtbewusstsein dieses, sich seines Liebhabers würdig zu zeigen. Mit warmer Sympathie lässt Plato in seinem Gastmahl den Phaidros, im Anschluss an des Pausanias Buch, wie ich glaube, diese dorischen Anschauungen so entwickeln ( 178 D): ‚Ich behaupte, dass, wenn ein liebender Mann etwas Unehrenhaftes thut oder aus Feigheit ohne Gegenwehr erleidet, er sich weder vor seinem Vater noch seinen Gefährten noch irgend einem anderen so schäme wie vor seinem Knaben. Und dasselbe beobachten wir auch an dem Geliebten, dass er ganz besonders vor seinen Liebhabern sich schämt, wenn er bei irgend einer Schändlichkeit gesehen wird.‘ Hübsch wird dies ritterliche Ehrgefühl dem Geliebten gegenüber illustrirt durch jene Anekdote von dem Krieger, der 

_________________________________________________________________________________


16 Plutarch Lycurg 17 a. A. und 18 a. e. E. Für einen Angstschrei  des Geliebten in der Schlacht soll einst sein Erastes von der Behörde gestraft werden sein. Der Zug ist anekdotenhaft überliefert, wie fast alle, darum aber nicht weniger werthvoll. Ebenso Aelian VH III 10.  17 Plutarch. Lycurg 25a A.   18 Xenophon Sympos. VIII 35.   19 Bei Xenophon Sympos. VIII 34 und Plato Sympos. 182 B.  20 Plutarch Pelopidas 18, Die Prus. Or. 22 (II p. 272 Arnim).    

_________________________________________________________________________________  S. 446


in tapferem Kampfe stolpernd auf des Gesicht gefallen, von einem Feind mit dem Stoss in den Rücken bedroht, die Erlaubniss erbat, sich umzudrehen und seine Brust darzubieten, damit nicht sein Geliebter seine Leiche mit der schmählichen Rückenwunde sähe, sich schäme und sich von ihm, dem Ehrlosen, abwende21.

Wie gross der Erfolg dieser Anschauungen und der auf sie gegründeten Erziehung wer, zeigen die Urtheile über die Kriegstüchtigkeit gerade dieser Päderastenheere. Durfte doch jener Pausanias von Athen ohne die Gefahr, sich der Lächerlichkeit preiszugeben, die Behauptung aufstellen, das stärkste Heer werde das sein, das  n u r  aus Liebespaaren bestehe22, eine Behauptung, die Plutarch in einer Anekdote dem Genossen des Epomeinondas, Pammenes in den Mund legt, mit der Begründung, Liebende seien unwiderstehliche Krieger, und noch nie sei zwischen einem Liebespaare ein Feind durchgebrochen oder zwischen ihm heil wieder hereusgekommen23. Und aus derselben Zeit und Sphäre wird die ebenfalls von Plutarch wiedergegebene Aufstellung stammen, die Böoter, Lakedämonier, Kreter seien die kriegerischsten Stämme, weil sie am stärksten in der Liebe seien24.

Die Geschichte hat diese Urtheile der Zeitgenossen bestätigt, die es ja wussten, weil sie’s am eigenen Leibe erprobt hatten: das Schlachtfeld von Chaironeia deckten die Liebespaare der heiligen Schaar der Thebaner Mann neben Mann, bei Mantineia starb mit Epemeinondas zusammen sein Geliebter Kaphisodoros 24.

Ich meine, es ist diesen Thatsachen gegenüber wohl begreiflich, dass gegen die Sittenprediger, die die Knabenliebe als widernatürliche Unzucht verdammten, begeisterte Vertheidiger im 5. und noch im 4. Jahrhundert aufgetreten sind. Beide hatten Recht: in den nichtdorisohen Staaten, in denen allein diese Opposition aufkam und Fuss fassen konnte, war die Knabenliebe trotz öffentlicher Anerkennung ein Laster, selbst wenn sie, wie nicht zu bezweifeln ist, zB. auch in Athen, Chalkis25 und sonst bei feinen Menschen feine Sprossen getrieben hat: Wäre doch ohne

_________________________________________________________________________________

21Plutarch Erotic. 761 C und Pelopidas 18, von einem Kreter bei Aelian Hist. Anim. IV 1. 22 Bei Xenophon Symp. VIII 32, bei Plato Symp. 178E in der Rede des Phaidros. Vgl. Plutarch Erotic. 760 D, Aelian VH III 9 (κατα την Κρητων εννιαν). 23Plutarch Erotic. 761 BC und Pelopidas 18. 24Plutarch Erotic. 761 D. 25Plutarch Erotic. 760 EF 761 (Aristoteles)

_________________________________________________________________________________
S. 447

sie die sokratisch-platonische Erotik nicht möglich gewesen.  Aber bei den Dorern war die Päderastie, obgleich überall und stets bei ihnen die Liebe thätlich sinnlich ausgeübt worden ist, nicht eigentlich ein Laster, sondern sie war oder konnte und sollte sein die denkbar innigste Verbindung zweier Geschlechts-genossen, aus der in reicher Fülle hervorsprossten die edelsten Triebe eigener Vervollkommnung im Wetteifer mit dem Anderen und unbedingter Hingabe für den Lieben in jeder Gefahr und bis zum Tode mitten in des Lebens Frühlingsblüthe. Es ist doch das Ideal der Kriegskameradschaft und ein hohes Streben in diesen Päderastenpaaren verwirklicht, die mit diesen Gedanken sich erfüllten und sie mit ihrem Blute besiegelten. Und deren sind zweifellos nicht wenige gewesen. Ist es nicht die wunderbarste Erscheinung in der Geschichte menschlicher Cultur? Eine Handlung überheisser Sinnlichkeit, unnatürlich, widerwärtig, wird zur Sitte, wird anerkannt, geachtet, geheiligt, sie wird das Fundament reinen Strebens, unbedingter Treue, unbegrenzter Aufopferung, hoher Sittlichkeit.   

Die dorische Knabenliebe hat gewisse Formen von der Eheschliessung geborgt. Durch die Schilderung des Ephoros wissen wir, dass in Kreta die Verbindung von Mann und Knaben in der Form des  B r a u t r a u b e s  vor sich ging27. Es geht die Sitte also in sehr hohes Alter hinauf, und da einige Spuren in Korinth und Böotien mit dem in Kreta Ueblichen übereinstimmen, so halte ich die Behauptung für nicht zu kühn, dass nicht nur auch dort, sondern bei allen Dorern diese selben Formen einst geherrscht haben, dass sie also noch auf die Zeit vor der dorischen Einwanderung oder doch vor der Zerstreuung der Dorer zurückgehen.

In Kreta kündete der Mann den Angehörigen des Knaben, den er sich ausersehen hat nicht etwa seiner Schönheit, sondern seiner Tapferkeit und Tüchtigkeit wegen, wenigstens drei Tage vorher an, er werde diesen auf einem bestimmten Wege rauben. Den Knaben zu verbergen, war für diesen äusserste Schmach, da  
 
_________________________________________________________________________________


26Ephoros bei Strab. X 483/4, vgl. Athen. XI 782 C in Kaibels Ausgabe III p. 19. Aristoteles im Herakleides-Excerpt περι πολιτειων 3, FHG II p. 211/12. — Die Bestimmungen des Gesetzes von Gortyn II 2ff. beziehen sich auf Vergewaltigungen (καρτει οιπεν). Auf Knabenbrautraub könnte aber vielleicht die Felsinschrift auf Thera IG. XII 3, 1417 bezogen werden, wenn Kretschmer Philologus 1899, 467 richtig interpretirt ταδ' ψπhε οισων σε.     
_________________________________________________________________________________


S. 448

dies das Eingeständniss enthielt, er sei eines solchen Liebhabers unwürdig. Erschien aber der Liebhaber den Angehörigen nicht vornehm genug für ihren Jungen, so entrissen sie ihn ihm bei der verabredeten Gelegenheit; schien er ihnen geeignet, so verfolgten sie das Paar nur zum Schein bis an des Räubers Haus. Dann lebte der φιλητωρ mit dem Knaben (παρασταθενς) draussen auf dem Lande zusammen zwei Monate lang und entliess ihn darauf reich beschenkt, wenigstens aber mit einer Kriegsrüstung, einem Becher und einem Rinde. Dies wurde dem Zeus geopfert und im Kreise der Angehörigen verspeist. Die Rüstung blieb des Geliebten stolzester Schmuck, und überall wurde er geehrt auch noch als Erwachsener, er bekam die Ehrenplätze in den Chören und Wettläufen (nicht etwa: ‚auf den Tanzplätzen und Rennbahnen‘), schon durch seine Kleidung kenntlich, und hatte den Ehrentitel Κληνος.

Dieselbe Sitte des Knabenbrautraubes ist wenigstens noch für das alte Korinth in einer Novelle nachweisbar, die allerdings von den späten Erzählern (Scholiasten zu Apollonios  Rhod. IV 1212, Plutarch Liebeserzählungen 772 EF, Maximus von Tyros 24, vgl. Alexander Aetolus v. 7-l0 bei Parthenius 14) in jenem alterthümlichen Brauche natürlich missverstanden, aber kaum entstellt ist. Ihre — übrigens verschiedene — ätiologische Verknüpfung mit der Geschichte korinthischer Coloniegründungen ist gleichgültig, nur Folgendes ist für uns wichtig. Ein Mann aus vornehmstem korinthischen Geschlecht liebt einen Knaben und kommt, ihn zu rauben; aber der Vater und die Seinen wollen das nicht zugeben, packen den Knaben ihn zurückzuhalten; der Liebhaber will den Raub durchführen: im heftigen Widerstreit wird der Knabe zerrissen. Es liegt hier also der auch von Ephoros aus kretischer Sitte erwähnte Fall der Abweisung des Liebhabers vor: hier wie dort geschieht sie derart, dass dem liebenden Räuber der Knabe von dessen Angehörigen nicht überlassen wird.

Ganz unverhüllt tritt die Sitte des Knabenbrautraubes in zwei Sagen hervor, die vorzügliche Zeugnisse darstellen, weil sie im frühen griechischen Mittelalter, zu einer Zeit als die Sitte von den Dorern allgemein und öffentlich geübt wurde, entstanden sein müssen: die Sage vom Raub des Pelopssohnes Chrysipp durch Laios und vom Raub des Ganymed durch Zeus.

Erstere war als Motiv für das Unglück des Oedipus und seines Hauses im Epos Oedipodee verwandt, vermuthlich also für diesen Zweck von seinem Dichter erfunden: das ist in Böotien

_________________________________________________________________________________
S. 449

geschehen27. Interessant ist die Umbiegung dieses Motive durch einen Verkehr der Knabenliebe, die in den Parallelen Plutarchs 313 E erhalten ist: Pelops habe dem Laios verziehen um der Liebe willen. Das Liebesverhältniss von Zeus zu Ganymed  kennt das Homerische Epos nicht, wohl aber seine Entrückung durch die Götter (Y 232 vgl. Hym. Hom. IV 202). Im Mutterlande ist dann diese Vorstellung unter dorischem Einflusse umgebildet werden in einer Landschaft, die noch aus vorgriechischer Zeit Cult oder Erinnerung an Ganymed bewahrte, etwa in Chalkis (Athenaeus XIII 601 F) oder in Kreta (Plato Gesetze I p. 636 C).   

Aus Theben selbst liegt ein Zeugniss fiir den Knabenbrautraub zwar nicht vor, aber dass die äusseren Formen der Verbindung dieselben waren wie in Kreta, das zu vermuthen legt die Thatsache nahe, dass hier wie dort ihr feierlicher Abschluss derselbe war: wie in Kreta herkömmlich der Knabe von seinem  Liebhaber wenigstens mit Kriegsrüstung, Becher und Rind bei seiner Rückkehr aus dessen Hause beschenkt wurde, so hat der Thebaner seinen Geliebten bei seiner Aufnahme unter die Männer mit einer Panoplie ausgerüstet28.

Zur Gewissheit wird mir diese Vermuthung durch die weitere Parallele, dass in Theben wie in Thera und in Kreta die Vereinigung des männlichen Paares der  r e l i g i ö s e n   W e i h e  nicht entbehrt hat. Das ist für unsere Empfindung das Erstaunlichste, aber gerade das beweist, dass die Knabenliebe den Dorern eine heilige Suche war. Im Grunde bestätigt es ja nur, was die übrigen Zeugnisse lehren, freilich nur demjenigen, der moralische Vorurtheile bei geschichtlicher Betrachtung durch wissenschaftliche Arbeit überwunden hat. Aua Kreta ist nur das Abschlussopfer des vom φιλητωρ seinem Geliebten zugleich mit Rüstung und Becher geschenkten Rindes bezeugt, es gilt dem Zeus29. Die Verlobung oder vielmehr fleischliche Vereinigung am heiligen Orte selbst unter dem Schutze eines Gottes oder Heros steht für Thera und für Theben sicher. In Thera30 reden eine nicht miss- 

_________________________________________________________________________________


27Vgl. meine Theban. Heldenlieder 12 ff. 28 Plutarch Erotic. 761 B παρ' υμιν δ' ω Πτεμπτιδη τοις Θηβαιοις ου πανοπλια ο εραστης εδωρειτο τον ερωμενον εις ανδρας (Winckelmann, ανδετας cd.) εγγραφoμενον; 29 Ephoros bei Strab. X 483 a. E.; vgl. Aristoteles bei Heraklides 3 a. E. 30 Hiller von Gaertringen IG. XII 3, 536-601 und 1410-1493 mit Tafel I, sein Buch Thera I S. 152 f. III S. 67 ff., Atlas Blatt 3 und 4.   
  

_________________________________________________________________________________
S. 450

verständliche Sprache die hocharchaischen Felsinschriften doch wohl des siebenten Jahrhunderts, Hillers kostbarste Entdeckungen, mit gewaltigen Buchstaben eingemeisselt auf dem Götterberge unmittelbar unter der Stadt, nur 50 bis 70 Meter vom Tempel des Apollon Karneios und von heiligen Stätten des Zeus, Kures, Chiron, der Athena, Ge, Artemis entfernt, dicht an einem alten Rundbau und einer nstürlichen Höhle31, die später beide durch den Gymnasionbau vereint worden sind, auch in jener alten Zeit offenbar die Stätten der dorischen Gymnastik und der Knabentänze32. Da heisst es (IG. XII 3. 537): [τον δεινα] ναι τον Δελφινιον h[ο?] Κριμων τε(ι)δε ωιπhε, παιδα Βαθυκλεος, αδελπεhο[ν δε του δεινα. An heiliger Stätte unter Anrufung des Apollon Delphinios hat hier Krimon seine Verbindung mit dem Sohne des Bathykles vollzogen und er hat sie stolz der Welt verkündet und ihr ein unverwüstliches Denkmal gesetzt. Und viele Theräer mit ihm und nach ihm haben an derselben heiligen Stätte den heiligen Bund mit ihren Knaben geschlossen. Ich zweifle nicht, dass wir von diesem festen und unzweifelbaren Zeugniss aus such die noch zu Aristoteles’ Zeiten bestehende von ihm vermerkte Sitte der Thebaner verstehen müssen33. Auf dem Grabe des Heros Iolaos, hat er geschrieben, machen die Liebhaber und ihre geliebten Knaben noch jetzt ihre Treuversprechungen; Plutarch fügt hinzu, weil Iolaos der Geliebte des Herakles gewesen und deshalb an seinen Kämpfen als sein Schildknappe theilgenommen hat. Damals wird man sich in Theben wohl mit einer feierliehen symbolischen Form begnügt haben, die der Eheschliessnng vor göttlichen Zeugen entspricht. Ursprünglich aber dürfte auch in Theben gerade auf dem heiligen Platze im Angesicht des heroischen Vorbildes und Schützers der Knabenliebe der Akt wie in Thera ausgeübt werden sein. Den Namen
­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­

_________________________________________________________________________________


 31 Dass die Höhle, wie Hiller Thera I 295 A 62. III 63 vermuthet, schon früh den Schutzgöttern des späteren Gymnasiums, Hermes und Herakles, geweiht war, ist wohl möglich. Aber die von Kaibel Nachr. d. Gött. Ges. d. Wiss. 1901, 509 behauptete ursprüngliche Beziehung der beiden zur Knabenliebe ist mir zweifelhaft, zumal Hermes meines Wissens nicht Päderast ist. 32IG. XII 3, 536; 540. 543. 33Aristoteles bei Plutarch Pelopidas 18 (und Erotic. 761 D/E)  Αριστοτελης δε και καθ' αυτον ετι φησι ... επι του ταφου του Ιολεω τας καταπιστωσεις ποιεισθαι τους ερωμενους και τους εραστης.

_________________________________________________________________________________
S. 451

der heiligen Schar aus der Heiligkeit des Päderastenbundes zu erklären, liegt nunmehr sehr nahe.   
Auf dieselbe alte Erasten-Sitte wird auch der in Megara am Grabe des Heros Diokles geübte Brauch zurückgehen, der uns nur in später Umformung durch Theokrit XII 27-3434 als Wettkampf der Knaben im Küssen bekannt ist. Schon C. O. Müller (Dorier II2 289) hat mit Recht bemerkt: ‚Die schönsten Knaben küssten da — der ursprünglichen Idee nach gewiss den treuen Liebhaber.‘ Wir dürfen jetzt weiter schliessen: es ward einst wie in Theben auch in Megara an einem Heroengrabe die Verlobung, noch früher die Vereinigung des Mannes mit dem Knaben geschlossen.   

Ueber Sparta weiss ich nichts beizubringen, das die gleichen Formen der Päderastie bewiese. Aber da sie in Kreta, Theben und Thera aufgezeigt sind und sich in den beiden letzten Staaten sicher bis ins 4. Jahrhundert gehalten haben, so bedürfte es schwerwiegender Gründe, um wahrscheinlich zu machen, dass Sparta sie nicht gehabt habe. Solche giebt es nicht. Auch die Gemeinsamkeit des Männerlebens kann dagegen nicht wohl angeführt werden, da sie doch ebenso in Kreta üblich war. Vielmehr haben die gleichen Anschauungen über die Knabenliebe auch zu Sparta in Blüthe und Kraft gestanden wenigstens bis ins vierte Jahrhundert, ja sie waren dort gerade besonders ausgebildet, und so möchte ich es für sicher halten, dass auch in Sparta jene selben Formen, uralte und gemeindorische, sich lange erhalten haben.   

* * *

Man kann dem Wesen der dorischen Knabenliebe näherkommen, wenn man die zusammengestellten Thatsachen recht erwägt, sie in Zusammenhang mit einander und mit abgerissenen   

_________________________________________________________________________________


34Vgl. Schol. zu Aristoph. Ach. 774. Auch in Theben hatte ein Diokles ein Grab und ward als treuer Geliebter des Bakchiaden Philolaos von Korinth, Gesetzgebers von Theben, gefeiert. Er ward mit dem Olympioniken von 728 identificirt: Aristoteles Politic. II 1274A 31 ff. — Die Versuchung liegt nahe, auch das Grab des gefeierten Päderasten Kleomachos auf dem Markte des euböischen Chalkis als Stätte eines solchen Brauches anzusehen. — Vielleicht darf man dieselbe Sitte auch für Argos aus der merkwürdigen Legende von Dionysus und Prosymnos        vermuthen bei Clemens Alex. Protrept. p. 30 Po., Westermann Mythographi Gr. p. 348, 15 ff., Schol. Lukian de dea Syria 28 p. 258 Jacobitz p.187. 21 Rabe 

_________________________________________________________________________________


S. 452 

Notizen, einigen wunderlich klingenden und gewiss gerade deshalb aufbewahrten Geschichtchen bringt. Zunächst verdient Beachtung eine von mehreren Zeugen gebrachte Behauptung: in Kreta und Sparta, also doch wohl bei den Dorern überhaupt, hätten nicht die Schönheit und der Liebreiz des Knaben und nicht der Reichthum oder andere äussere Vorzüge des Mannes das Verhältniss begründet. Gerade die Schönheit war aber sonst in der Knabenliebe das Zündende und Wichtigste, was für Athen die vielen Aufschriften ο παις καλος und viele Athener, vor allem Platon, bezeugen. Ausdrücklich hat aber Ephoros als etwas Auffallendes angemerkt, dass den Kretern nicht der durch Schönheit, sondern durch Tapferkeit und Ehrbarkeit ausgezeichnete Knabe liebenswerth erschienen sei35.

Dass das keine Schönfärberei ist, lehren die schon oben (S. 444) angeführten Ueberlieferungen; war doch in Sparta der Erastes verantwortlich für die Aufführung seines Geliebten, wurde er doch gestraft für seines Geliebten nicht rittermässiges Benehmen, hatte  e r  doch aber auch umgekehrt Theil an seinem Ruhme36.

Ich bin von hier aus geneigt, einigen Lieblingsinschriften auf dem heiligen Fels zu Thera eine dem entsprechende, von der des Entdeckers abweichende Erklärung zu geben. Gegenüber den attischen fällt hier auf, dass nur ein einziges Mal und zwar in einer jüngeren Inschrift (IG. XII 3. 549) das in Athen stets üblicheWort καλος zu einem Namen gesetzt ist, desto häufiger aber αγαθος; (IG. XII 3. 540. 7, 544, 545, 546, 1416). Hiller hat dies αγαθος auf die Tanzleistung der Knaben bezogen im Hinblick auf die Inschrift Ευμελος αριστος ορκ(h)εστας (540. 2 vgl. 546?). Aber αγαθος ορκ(h)εστας kommt hier nicht vor, wäre ja auch eine erstaunlich nüchterne Liebesäusserung, während es im Verse IG, XII 543 (vgl. Suppl. p. 308) Βαρβακο ορκ(h)εστας τε αγαθος . . . neben anderen Beiworten ganz stattlich klingt.

_________________________________________________________________________________

35Bei Strabo X 483 ερασμιον δε νομιζουσιν ο του καλλει διαφορεντα, αλλα τον ανδρεαι και κοσμιοτητι. Vgl. Xenophon Laced. Rpbl. II I3 die oben in Anmerkung 15 ausgeschriebenen Worte. Vgl. Plutarch Agesilaos 2 εν δε ταις καλουμεναις αγελαις των συντρεφομενων παιδων 'Αγ. Λυσανδρον εσχεν εραστην, εκλαγεντα μαλιστα τω κοσμιψ της φυσεως αυτου. φιλονεικοτατος γαρ ων και θυμοειδεστατος εν τοις νεοις και παντα πρωτευειν βουλομενος. 36Plutarch Lykurg 18 εκοινωνουν δε οι ερασται τοις παιδι δοξης επ' αμφοτερα· folgt als Beleg die oben (vgl. Anm. 16) angeführte Geschichte.

_________________________________________________________________________________

S. 453   

Die hocharchaische Nr. 547 Πυκιμηδης αριστος Σκα . τ . δαν zeigt einen anderen Weg. Denn ob man sie wie Hiller mit Hinweis auf den Namen Σκαμοτασ zu Σκα[μο]τ[ι]δαν ergänzt oder dies als unsicher abweist (760), das ist gewiss, dass vom Tanzen nicht die Rede war, auch nicht vom Springen und Turnen. Hillers Gedanke, einen Geschlechtsnamen einzusetzen, so dass Pykimedes als die Blüthe seines Geschlechts gepriesen würde, erscheint mir sehr glücklich. Diesen Theräern kam es eben wie den Kretern und Spartiaten nicht so sehr auf die Schönheit ihres Geliebten an, als auf ihre αρετη, die sich unter anderen freilich auch in Turn- und Tanzleistungen zeigt; deshalb schrieben sie: Qυ[δ]ρος αριστος (1414), Μενιαδας (1437) Κλεγορας τιμιος (1461), oder einfach ο δεινα αγαθος, nicht wie die Athener ο δεινα  καλος37.

So wird es verständlich, dass es in Kreta für eine Schande galt, wenn ein Knabe aus gutem Hause — selbstverständlich handelt es sich bei der Knabenliebe und Ritterehre immer nur um ‚gute Familien‘, der Plebejer hat ja keine Ehre — wenn ein adliger Knabe keinen Liebhaber fand: es schien ein Beweis für seinen schlechten Charakter38. Umgekehrt war es eine Ehre für den Knaben, wenn sich viele Männer um ihn bemühten39.  

_________________________________________________________________________________

37Möglich wäre es, dem in IG. XII 3, 1450 = 590 κ(h)αριτερπης (alleinstehend!) und 1416:546 II 1 κhαριτερφης (sic!) Λαμπσαγορας erscheinenden Worte einem dem καλος etwa entsprechenden Sinn mit Hiller Thera III S. 68 zu geben, der es mit Διειτρεφης vergleicht und  erklärt 'von den Chariten genährt'. Aber könnte das Wort nicht auch Eigenname sein? Vgl. Επιτρεφης und 'Ερμοτρεφης; Fick-Bechtel, Griech. Personennamen S. 269. Dann wäre auch die zweite Inschrift in zwei zu zerlegen. — Bleibt Nr. 1437 Αινησις θαλερυς. — Alle Erklärungen dieser Therainschriften, die etwas Lascives hineintragen, sind verfehlt. Sehr lehrreich ist, wie Kaibels derartige Interpretation (Nachr. d. Gött. Ges, d. Wiss. 1901 S. 5091) von Nr. 540, die in Krimon einen Don Juan suchte,    κονιαλος = κονισαλος = πεος erklärte und gar das Raffinement der Knabenjungfern einführen wollte, durch wiederholte Revision der Inschrift (Suppl. 1413=540) beseitigt ist; leider hat auch sie keine Deutung gebracht. Wenn aber wirklich Krimon in 537, 538b, 540 III=1413 dieselbe Person sein sollte (die Schriftformen deuten wohl etwa auf dieselbe Zeit), dann ist er ein bewunderter, vielumworbener Held gewesen.  38Ephoros bei Strab. X 484 A. Cicero Rpbl. IV 3 bei Servius  Aen. X 325. 39 Sparta: Plutarch Lykurg 18, Thessalien: Plutarch Erotik. 761 C, Kreta: Comin 16. Vgl. Pausanias von Athen bei Plato Sympos. 178 E.  

_______________________________________________________________________________

S. 454

Und noch wichtiger ist die αρετη des Liebhabers. Sie liegt in Tüchtigkeit, Muth, Ansehen, Adel, kurz in allem, was den Ritter ohne Furcht und Tadel macht. Die kretische Familie prüfte genau den angemeldeten Erasten ihres Sohnes und entriss ihm bei seinem Raubversuche den Knaben, wenn er nicht ihren Forderungen an Rang und Ansehen entsprach40. In Sparta sollte allein der persönliche Werth entscheiden. 

Das betont Xenophon41, das hat in der Quelle von Plutarchs Schilderung der Spartiatenerziehung für seinen Lykurg 17 wohl deutlicher gestanden als bei ihm selbst, der nur von den ερασται των ευδοκιμων νεων redet; dahin weist die von Aelian VH III 10 vermerkte Notiz, die Ephoren hätten den Knaben gebüsst, der einen schlechten reichen Liebhaber einem wackeren armen vorgezogen. Deutlicher spricht noch der von demselben Rhetor angeschlossene, wie sich unten zeigen wird zweifellos wahre Zug, es sei in Sparta der anerkannt tüchtige Mann bestraft worden, wenn er keinen Knaben liebte. Solche Männer sind es gewesen, um deren Liebe die Knaben selbst warben, während doch das Umgekehrte als das Natürlichere erscheint und sonst bezeugt ist42. Aber Aelian VH III 12 hat aus einer vortrefflichen Quelle jene Sitte angemerkt, freilich thöricht verallgemeinert: die spartiatischen Knaben hätten einen Mann gebeten, εισπνειν αυτοις, was der spartanische Ausdruck gewesen sei für ‚lieben‘. 

Es musste sich also der Mann bei seiner Werbung um einen Knaben vor allem als αγαθος ανηρ darstellen, zumal wenn er Nebenbuhler hatte. Da hat sich gelegentlich eine Heldenromantik ausgebildet, wie wir sie am besten aus unserem mittelalterlichen Ritterthum belegen können, nur dass es hier Damen, dort Knaben waren, vor denen sich der Ritter in seinem Heldenthum zeigen sollte und musste. Bezeichnend ist die chalkidische Geschichte, die von dem auf dem Markt zu Chalkis mit heroischen Ehren bestatteten Kleomachos erzählt wurde — fälschlich von diesem, wie Aristo-

_______________________________________________________________________________

40Ephoros bei Strab. X συνιοντης  δε (οι του παιδος φιλοι) αν μεν των ισων η   τ ω ν  υ π ε ρ  εχ ο ν τ ω ν  η του παιδος  τ ι μ η   κ α ι   τ ο ι ς   α λ λ ο ι ς  ο αρπαζων, επιδιωκοντες απθηψανων μονον μετριως ..., αν δ' αναξιος, αφαιρουναι.  41 Laced. Rpbl. II 12 … ει μεν τις, αυτος ων οιον δει, αγαθεις ψυχεν παιδος ... 42Für Kreta Ephoros bei Strabon X 483, für Sparta Plutarch Lykurg 48 a. E.


_______________________________________________________________________________

S. 455  

teles bemerkt hat, der sie also bereits kannte43. Dieser, ein Thessaler, Kriegsmann der Chalkidier gegen Eretria, aufgefordert, gegen die übermächtigen feindlichen Ritter vorzugehen, habe seinen Geliebten gefragt, ob er diesen Kampf zu sehen begehre: der bejaht es, küsst ihn, setzt ihm den Helm auf — und Kleomachos bricht gewaltig die Reihen der Ritter, siegt und fällt. Ganz wie im 12. und 13. Jahrhundert die Dame ihren Ritter von    einer Liebesprobe zur anderen schickte, erzählt Konon 16 von einem Kreterjüngling (Leukokomas nennt er ihn), der seinem Liebhaber (Promachos) ‚grosse und gefahrvolle Kämpfe eufträgt’. Das sind nicht etwa späte Auswüchse, das war im 5. Jahrhundert allgemeine Anschaung, sicherlich schon im 6. Denn die Zeitgenossen    des Aischylos und Pindar können sich Heldenpaare wie Achill und Patroklos, Theseus und Peirithoos, Herakles und Iolaos kaum anders denn als Liebespaare denken44. Bis zur Selbstverstümmelung ist der Ehrgeiz des Mannes gegangen, sich seinem Knaben als Held zu zeigen: Plutarch hat im Eroticus 761 C die Geschichte von einem Thessaler Theron aufbewahrt, der sich selbst die linke Hand abschlug, um den Nebenbuhler beim geliebten Knaben auszustechen. Besonders amüsant ist in diesem Zusammenhange Eurystheus als παιδικα des Herakles: ihm zu Liebe vollendet der Heros auch die schwersten Aufgaben, die der Geliebte ihm stellt. Der Epiker Diotimos, der dafür citirt wird bei Athenäus XIII 603 D, scheint erst der frühhellenistischen Zeit anzugehören, wie Bergk (de rel. comoed. Att. p. 24) und Wilamowitz (Herakles I1 310, 78) vermutheten, aber er hat im Sinne der dorischen Päderastenromantik erfunden, wenn nicht gar bloss eine ältere Erfindung aufgenommen. Die Heldensage ist durch das Motiv der Knabenliebe stärker umgestaltet worden als wir sehen können, weil diese päderastische Poesie, trotzdem sie von Alexandrinern aufgenommen wurde, sich nicht erhielt, da die Schule sie ablehnen musste.  

Von neuem stellt sich mit überraschender Deutlichkeit der ideelle Einfluss der Knabenliebe auch auf die Männer dar. Ihre
­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­

_______________________________________________________________________________

43Plutarch Erotic. 760 EF. Vgl. Athen. XIII 601 E. - Ein Athener Meles befiehlt seinem Liebhaber Timagoras schliesslich von der Akropolis hinabzuspringen, der thut‘s sofort. Als ätiologische Legende an den Altar des Anteros auf der Burg angeknüpft: Pausanias I 30. 1,  besser Suidas s. Μελητος = Aelian frg. 147.  44Vgl. Xenophon Sympos. VIII 31, Platon Sympos. 180, Aeschines Timarch 144 = 133.

_______________________________________________________________________________
 

S. 456

Heldensucht ist durch die einzigartige Verquickung mit der Liebe zum jüngeren Kriegskameraden und der Eifersucht gegen die Nebenbuhler aufs äusserste, ja bis zum Wahnsinn gespannt worden, da nur der αγαθος  ανμρ Anwartschaft auf die Hingabe des umworbenen Knaben hat. Aus dieser Anschauung begreift man leicht, welche Schmach die Abweisung des werbenden Mannes für  diesen bedeutet: seine αρετη wird durch sie bezweifelt, verneint, seine ‚Ehre’ vernichtet, seine Stellung unter seinen Standesgenossen erschüttert; es wird ihm ein Schandfleck angeworfen, der nur mit Blut abgewaschen werden kann. Man geräth unwillkürlich in die Sprache unseres ritterlichen Ehrencomments. Die sentimentale Novelle bei Konon 1.6 vom Kreter Promachos, der schliesslich, vom Geliebten Leukokomas verschmäht, sich selbst den Tod giebt, beweist nicht viel; wohl aber beweist, weil unter diesem Gesichtspunkte erst verständlich, die altkorinthische schon oben S. 448 erwähnte Geschichte von dem vornehmen Junker, der beim Knabenbrautraube die Schmach der Abweisung zu verhindern, sich mit Gewalt um jeden Preis in den Besitz des Knaben zu setzen trachtet und so im Ernst gewordenen Kampf mit den Angehörigen den armen Jungen zerreisst. Ein unanfechtbares Zeugniss giebt Platon im Phaidros 252 C. Er schildert da das verschiedene Verhalten der Menschen in der Liebe, verschieden je nach dem Wesen ihrer praeexistenten Seelen, die sich je einen der olympischen Götter als Führer erwählt hatten. ‚Alle Diener des Ares‘, sagt er, ‚und die mit ihm einst wandelten, die sind, wenn sie von der Liebe erfasst werden und irgend Unrecht vom Geliebten zu leiden meinen, mordgierig und bereit sich selbst und den Geliebten hinzuschlachten (φονικοι  και ετοιμοι καθιερευειν αυτους και τα παιδικα).

Deutlich spricht auch die hässliche, bisher nur aus der Brutalität der Spartaner, wenn überhaupt erklärte Geschichte, die Plutarch (Narrat. amator. 3. 773 F) erhalten hat: jetzt wird sie verständlich von dem gewonnenen Standpunkte des dorischen Ehrbegriffs und der dorischen Knabenliebe aus. Aristodamos, als Harmost von Sparta nach Oreos in Euböa gesandt, versucht einen Knaben aus der Palästra zu entführen, woran er durch Dazwischentreten des Pädotriben und vieler Jünglinge verhindert wird —vermuthlich liegt der missverstandene, aus Kreta bekannte Knabenbrautraub vor — doch am folgenden Tage gelingt es ihm, den Knaben auf seine Triere zu bringen, er lässt sich mit ihm übersetzen — vielleicht auch gemäss der dorischen, aus Kreta

_______________________________________________________________________________
S. 457 

bezeugten Sitte, die dem Erastes gebot, sich mit dem geraubten Knaben aus der Stadt zurückzuziehen. Doch auch jetzt widersetzt sich der Knabe seiner Umarmung: da stösst ihn Aristodamos mit seinem Schwerte nieder. Er kehrt nach Oreos zurück und hält einen Festschmaus. Der Vater des armen Jungen reist nach  Sparta, bringt die Suche vor die Ephoren, ‚die aber nehmen keine Notiz davon‘. Ich möchte glauben, sie billigten die Handlungsweise ihres Harmosten aus den Ehrbegriffen ihres Standes heraus45

* * *

Wer diese vielen schwachen, vielfach gebrochenen und nur zufällig noch wahrnehmbaren Strahlen sammelt und auf ihren Ursprung zurückzuverfolgen sucht, wird leicht eine einzige Lichtquelle finden in dieser einen Vorstellung: die Eigenschaften des Mannes, sein Heldenthum, seine αρετη werden durch die Liebe irgendwie auf die geliebten Knaben fortgepflanzt. Deshalb hält die Gesellschaft, ja dringt der Staat darauf, dass tüchtige Männer Knaben lieben, deshalb bieten sich Knaben dem Helden an; deshalb theilen Erastes und Eromencs Ruhm und Schmach, deshalb wird der Erast für die Feigheit seines Geliebten verantwortlich gemacht, deshalb ist er auch der legitime Vertreter seines Knaben neben dessen Blutsverwandten; deshalb sieht der Mann vor allem auf die tüchtigen Anlagen des Knaben, den er sich erwählt, und noch schärfer wird die αρετη des Mannes geprüft, ob sie werth sei der Uebertragung; deshalb war‘s Schande für den Knaben, keinen Liebhaber zu finden, und andrerseits eine — in Kreta öffentlich und von der Familie gefeierte — Ehre für den Knaben, einen ehrenwerthen Liebhaber gefunden zu haben und ihm feierlich verbunden worden zu sein. Daher der Ehrentitel κληνοι für die Knaben, die der Liebe eines Mannes theilhaftig geworden waren, daher ihr Ehrenkleid, ihre Ehrung bei jeder öffentlichen Gelegenheit, nicht einmalige, sondern dauernde: denn diese Knaben sind durch die Liebe in den Besitz der αρετη gekommen, der

_______________________________________________________________________________


45 Die bei Plutarch Narrat. amator. 3 mit dieser verkoppelte Geschichte von der Schändung böotischer Mädchen durch Spartiaten und verweigerten Genugtuung seitens der spartanischen Behörden spricht allerdings nicht für diese Auffassung. Aber diese Verkoppelung der beiden Geschichten ist sehr äusserlich, sie sind beide verwendet, um die Vernichtung der spartiatischen Macht durch Epameinondas zu motiviren. — Ob meine Deutung für diesen Fall zutrifft oder nicht, jedenfalls scheint es mir lehrreich, den Consequenzen jener Ehrbegriffe nachzudenken.    

_______________________________________________________________________________
S. 458

diese Auszeichnungen zustehen. Wie tief eingewurzelt dieser Glaube an die Veredelung des Knaben durch die Mannesliebe und wie allgemein er verbreitet war, zeigt deutlich Plato. Lässt er doch im Symposion den Aristophanes aussprechen: nur diejenigen würden tüchtige Männer im Staate, die als Knaben eines Mannes Liehe erfahren haben46.

Von hier aus wird endlich auch jenes als Merkwürdigkeit mehrfach citirte Solonische Gesetz47 besser verständlich, das dem Sklaven Gymnastik und Knabenliebe verbietet. Einerseits sollte der Sklave nicht die Möglichkeit haben, sich wie ein freier Mann gymnastisch auszubilden und durch Liebesverhältnisse seine Stellung zu stärken, andererseits musste verhindert werden, dass der Sklave, der an sich keine αρετη hat und auch nicht haben soll, seine schlechten Eigenschaften, wie Feigheit, Demuth, dem freien Knaben als Liebhaber einflösse genau so wie der treffliche Mann seine guten.

Von Wichtigkeit ist eine weitere Beobachtung; auch sie hat sich bei dieser Betrachtung schon ergeben, sie bedarf nur der Formulirung. Der päderastische Akt machte im Leben des Knaben Epoche, er war ein wichtiges Ereigniss wenigstens in dorischen Staaten. Denn wie aus Kreta und Theben ausdrücklich bezeugt ist, hatte der Erast seinen Knaben nach der Vereinigung mit der Waffenrüstung auszustatten und künftig stand

_______________________________________________________________________________


46Plato Symp. 191 E. 192 A. Und zwar ist es die sinnliche Knabenliebe, von der hier allein die Rede ist. οσοι δε αρρενος τμημα εισι τα  αρρενα διωκουσι και τεως μεν αν παιδες ωσιν, ατε τεμαχια οντα του αρρενος, φιλουσι τους ανδρας και χαιρουσι συγκατακειμενοι και συμπεπλεγμενοι τοις ανδραςι, και εισιν ουτοι  β ε λ τ ι σ τ ο ι  των παιδων και μειρακιων, ατε ανδρειοτατοι τη φυσει ... μεγα τε τεκνηριον. και γαρ τελεωθεντες  μ ο ν ο ι  αποβαινουσιν εις τα πολιτικα ανδρεν οι τοιουτοι.  47Aeschines Timarch. 138 = 147 δουλον φυσιν ο νομος μη γυμναζεθαι μηδε ξηραλοιφειν εν ταις παλαιστραις ... παλιν ο αυτος ουτος ειπε νομοθετης; δουλον  ε λ ο ι θ ε ρ ο υ   π α ι δ ο ς  μητ' εραν μητ' επακολουθειν η τυπτεσθαι τη δημοσια μαστιγι πεντηκοντα πληγας. Plutarch Solon 1 Ζολων ... νομον εγραψε διαγοροιοντα δουλον μη ξηραλοιφιν μηδε παιδεραστειν. Plutarch Erotic. 4 p. 751 B, Septem sap. conv. 7 p. 152 D/E. Ob im attischen Gesetz des Verbot auf die freien Knaben ausdrücklich beschränkt war, ist kaum zu sagen, jedenfalls sollten besonders diese vor der Sklavenliebe geschützt werden. Die Gesetze von Gortyn beweisen, dass Liebesverhältnisse zwischen Sklaven und Freien vorkamen. Bei Platon Sympos. 182 B stellt Pausanias die Päderastie, Gymnastik und Philosophie als staatsgefährlich für Tyrannenherrschaft hin: Sklaven dürfen das alles nicht treiben.

_______________________________________________________________________________
S. 459   

dieser neben ihm im Kampf: παρασταθενς hiess der Geliebte bei den Kretern, und die Schlachtfelder von Chaironeia und Mantineia deckten die Leichen der Liebespaare nebeneinander. Also mit andern Worten der dorische Knabe trat unmittelbar mit dem Liebesakt in die Gemeinschaft der Männer ein, ein wichtiger Tag für ihn, seine Verwandten und seine Freunde und deshalb, wie aus Kreta bezeugt, mit Dankopfer und Schmaus als Freudentag gefeiert. Uralt und weit verbreitet ist die festliche Feier der Aufnahme des Knaben unter die Männer, in den ‚Männerbund’, oft genug unter wunderlichen Begehungen. Sollte nicht vielleicht der päderastische Akt unter sie zu zählen sein? Sollte der dorische Knabe vielleicht gerade durch diesen befähigt werden, in den Männerbund einzutreten? Ich komme später darauf zurück.  

* * *

Jetzt aber wollen wir uns zu einer anderen Frage wenden:  Wie hat man es sich möglich gedacht, dass der Mann seine αρετη durch die Liebe auf Knaben übertragen könne? Xenophon, Ephoros deuten nach Vorgang des Platon oder Sokrates, vielleicht auch anderer Moralisten des ausgehenden 5. Jahrhunderts, diese Fortpflanzung der αρετη als Erziehung des Knaben durch den steten Umgang und das Vorbild des liebenden Mannes. In Wirklichkeit haben sie damit gewiss das Wirksamste und Fördersamste in diesem Verkehr getroffen. Aber eine andere Frage ist es, ob sie, alle Nicht-Dorer, die rechte dorische Anschauung und den Quell der ganzen Einrichtung mit allen Eigenthümlichkeiten berührt haben. Sicherlich nicht. Denn es müsste dann ja die Ausübung der Liebe nur ein Auswuchs gewesen sein: sie bemühen sich auch alle, sie als solchen darzustellen.   
 

Aber das ist unwahr. Gerade das Umgekehrte ist der Fall: diese ganze Darlegung hat es gezeigt, und dem geschichtlich Denkenden wird das wahrscheinlich sein. Die sinnliche Knabenliebe ist das Ursprüngliche und ist die Grundlage für den wunderlichen und doch bewunderungswürdigen Aufbau bis zur idealen Höhe. Die theräischen Felsinschriften zeigen mit der naiven Offenheit alter ehrenfester Sitte das, worauf es ankam [τον δεινα] ναι τον Δελφινιον h[ο?] Κριμων τε(ι)δε ωιπhε, παιδα Βαθυκλεος.. Und dass eben dieses nicht nur überall bei den Dorern, such in Kreta und Sparta geübt wurde, sondern dass auch gerade der Liebesakt selbst als eine heilige Handlung am heiligen Orte, umgeben von öffentlich anerkannten Gebräuchen vollzogen worden ist, das habe ich gezeigt. Da drängt sich eine sonderbare Ver-    

_______________________________________________________________________________

S. 460

Vermuthung auf, die zunächst vielleicht abgewiesen, mit logischer Nothwendigkeit doch immer wiederkehrt: eben durch den sinnlichen Liebesakt muss nach der altdorischen Vorstellung der Mann auf den Knaben das übertragen haben, was ihm selbst, seincm Knaben, dem Staate als würdig der Fortpflanzung und begehrenswerth erschien, seine αρετη.

Nun haben wir ein unanfechtbares Zeugniss aus der Sprache der Spartaner48: εισπνηλας hiess bei ihnen der Päderast. Im Alterthum ist es von εισπνειν abgeleitet worden. Mit Recht, denn ‚formal ist alles in Ordnung'. Nicht verwendbar ist freilich μιμηλας49 = ‚Maler‘, weil dies Wort nur durch Versehen entstanden ist. Aber da Nebenformen auf  -ας und -ης neben Nomina agentis auf -ος gang und gäbe sind, zB. πριηραρχος πριηραρχης, so wäre die Grundform *πνεFηλος50. Das Wort εισπνειν

_______________________________________________________________________________


48 εισπνηλας verwandten als gelehrte Glosse Theokrit XII 13 ο μην εισπνηλας, φαιη χ' ωμυκλειζων und Kallimachos frgm. 169 Schn.. Ihre Scholien haben sie übereinstimmend erläutert (also Theon), zu Kallimachos erhalten im Et. M. p. 306, 22, vgl. Et. Gud. s. v. αιτης, vielleicht aus derselben Quelle, aus der der Dichter sie geschöpft. Theon erklärt das Wort für ein lakonisches, leitet es ab von εισπνειν, das im Lakonischcn εραν bedeute. Dann aber deutet er falsch εισπνηλας passivisch Et. M.: εισπνηλας . . . ο υπο του ερωτας εισπνεομενος; Λακεδαιμονιοι γαρ εισπνειν φασι το εραν.  49 Prellwitz Etym. Wörterb. s. v. aus Herwerden. Es steht nur bei Plutarch Agesilaos 2 αυτος γαρ ουκ ηθελησεν, αλλα και αποθνησκων απειπε μητε πλασταν μητε μιμηλαν τινα ποιησασθαι του σωματος εικονα. Aber πλασταν und μιμηλαν gehören zu εικονα (Bücheler). Vgl. [Plutarch] Apophthegm. Lak. Ages. 79 p. 215 n. 26; p. 210 D. 50 Die etymologische Belehrung verdanke ich den Herren Bartholomae, Solmsen, Wackernagel. αιτας = ερωμενος Alkaios 41, 2, von Theokrit XII 14 als thessalisch citirt, ist nach dem Urtheil der drei Linguisten mit αημι kaum zusammenzubringen, obgleich Bartholomae es nicht für ausgeschlossen hält, 'es zu lit. véjas = Wind, vejù= wehe und weiter zu griech. αFημι zu stellen, das hinter η einen i-Laut verloren haben kann, vgl. Brugmann Grundriss I2 203 ff.‘ Wie die Alten, C. O. Müller (Dorier II2 286, der schon Alkman heranzog), Diels (Hermes XXXI 372) leiten es Solmsen und Wackernagel von αιω ab und erklären es ‚wer auf einen andern hört‘, ‚der Willfährige‘. Alkaios 41 2 αιτα zeigt, dass αιταν Theokrit XU 14 metrische Dehnung im letztcn Versfuss hat, bei Alkaios seinerseits beruht ã auf metrischer Dehnung. Ganz einwandfrei ist Diels’ Etymologie auch nicht; wir würden zu αιω αιστας erwarten nach Analogie des Herodotischen επαιστος’ (Solmsen). Wackernagel erklärt es für normal aus αιω gebildet: ‚denn,

_______________________________________________________________________________

S. 461 

hat in Lakonien εραν bedeutet: so die antike Ueberlieferung.  Wenn nun aber εισπνηλας als ‚der von der Liebe Angeblasene‘  erklärt worden ist, so widerspricht das aller Analogie: μιμηλος ist der welcher μιμειται, απατηλος ος απατα, σιγηλος ος σιγα. Es muss also εισπνηλας εισπνηλος derjenige sein, der εισπνει. Und in der That kann man doch nur so einen zweiten unabhängigen  Zeugen für diese Glosse und ihre Erklärung verstehen, Aelian VH. III 12: αυτοι γουν (οι παιδες) δεονται των εραστων εισπειν αυτοις; Λακεδαιμονιων δε εστιν αυτη η φωνη, εραν δειν(?) λετουσα.51 Die Spartanerknaben baten also den bewunderten Mann ‚ihnen einzuhauchen‘. Was? - Man kann kaum ein anderes Objekt ergänzen als das, was man haucht, πνευμα, animam, Seele. Die Mannhaftigkeit, die αρετη des Helden wünschten die Knaben zu gewinnen, und die steckt doch nur in der Seele, sie muss eben die Seele selbst sein.   

*   *   *

Die Seele im Hauch πνευμα anima zu sehen ist eine weit verbreitete und geläufige Vorstellung, und ebensowenig befremdlich ist der Glaube, dass die Seele durch Anhauchen mitgetheilt werden kann. War er ja doch noch in der Christenheit lebendig: im Johannisevangelium 20-22 haucht der auferstandene Jesus seine Jünger an und spricht: ‚Nehmet den heiligen Geist‘ και τουτο ειπων ενεφυσησεν και λεγει αυτοις; λαβετε πνευμα αγιον.52 Es darf wohl die Frage aufgeworfen werden, ob nicht

_______________________________________________________________________________


auch wenn W. Schulze Kuhns Zeitschr. XXIX 253, Quaest. epicae 357 f. in der Analyse des Verbums recht hat (was mir nicht ganz sicher ist), so konnte doch davon nach der Weise von μηνυω: μηνυτης ein αιτης abgeleitet werden. Der etwas abnorme Accent könnte aus der Analogie der Denominativa auf -ιτης erklärt werden οδιτης usw. Übrigens gab es auch ein Femin. αιτις. ερωτικη Et. M. 43, 40’. 51 εραν αιειν λεγουσα coniec. Buecheler (Δειν - Αειν) conl. Schol.  Ambros. Theocrit. XII 13.  52 Holtzmann Handcommentar zum N.T.2 vergleicht Ez. 37, 5-10 (Hauch = Geist Gottes) und Joh. 9, 6 (Speichel, der aber nach Gunkel nie im Babylonischen Zaubermittel). I. Mose 2, 7 wird wohl der urthümlichen Auffassung am nächsten stehen, da hier der Odem, den Jahve dem Menschen einbläst, eben alles bedeutet, was nicht Körperliches am Menschen ist. Vgl. Gunkel Handcommentar2 S. 5. Bei der katholischen Taufe fordert der Priester sodann den bösen Feind auf, zu weichen und dem heiligen Geiste Platz zu machen und bläst zu diesem Zwecke den Täufling dreimal an (I. Mose 2, 7. Joh. 20, 22) . . . Ohren und Nase des Täuflings werden nach dem Beispiele Jesu (Marc. 7, 33) mit      

_______________________________________________________________________________

S. 462

derjenige, der einst die Geschichte des Kusses erforschen wird, auf gleiche oder ähnliche Vorstellungen stossen wird. Denn ein mystischer Glaube scheint doch dem sacramentalen Kusse im Ritus der römisch- wie griechisch-katholischen Kirche zu Grunde zu liegen, wobei die Auffassung der Aufforderungen zum Küssen in den Apostelbriefen ziemlich gleichgültig ist53.

Nun ist es aber offenhar nicht die Vorstellung von dieser Uebertragungsart der Heldenseele durch Hauch oder Kuss, die der dorischen Knabenliebe zu Grunde liegt. Denn so sehr jeder zunächst geneigt sein wird, an derartiges zu denken, so ist das doch nach dieser ganzen Darlegung kaum mehr möglich: allein schon das οφειν, was die Theräer an den παιδες αγαθοι unter Anrufung des Apollo Delphinios als Zeuge geübt und beurkundet, und die Erläuterung von εισπνειν als εραν schliesst diese Auffassung aus; εραν heisst nicht küssen.

Doch ehe wir uns diesem neuen Problem zuwenden, wie der Mann seine Seele durch den Liebesakt auf Knaben übertragen könne, überblicken wir die gewonnene Erkenntniss. Denn darin werden, bin ich gewiss, alle zustimmen: die dorische Knabenliebe

_______________________________________________________________________________


Speichel berührt‘. Lehrbuch der kathol. Religion zunächst für Gymnasien2. München 1886. — Schamanen stehen im Rufe, durch blosses Anhauchen töten zu können. Preuss Globus 86, 362 f. —Vgl. auch A. Dieterich Mithras-Liturgie S. 96, 117, 119. R. Wünsch Hess. Blätter für Volkskunde I 1902, S. 135. 53 Vgl. F. X. Krauss Realencyklopädie der christl. Alt. I 542 ff.  Das Laodic. c. 14 gibt als Zweck des liturgischen Osculums des ανακραθηναι τας ψυχας an. Der Kuss wurde, besser wird gegeben bei der Taufe, der Messe, der Consecration und Ordination, bei der Absolution, bei Sponsalien und den Verstorbenen. Er wurde ausdrücklich auf die Gemeinschaft der Christen beschränkt, sollte nur den fratres, nicht den Katechumenen gegeben werden (Tertull. de oret. e. 14). Besonders interessant ist das Küssen des Altars durch den Bischof, der dann den Kuss den Priestern weitergibt, oder nach griechischem Ritus durch den neu ordinirten Priester, während nach lateinischem Ritus der neu Geweihte vom Bischof geküsst wird. Das sieht doch so aus, als sollte durch den Kuss irgend etwas specifisch Christliches auf das neue Gemeindemitglied und den neuen Priester und Bischof übertragen oder durch Wiederholung des Kusses bei jeder neuen Feier gestärkt werden. —- Als Beleg für die Uebertragung der Seele durch den Kuss zeigt Dr. Robert Fritzsche-Giessen das ps. platonische Epigramm την ψυχην, Αγαθωνα φιλων, επι χειλεσιν; ηλθε γαρ η τλημων ως διαβησομενη.

_______________________________________________________________________________
S. 463  

als öffentlich anerkannte, vom Staate geförderte Institution muss auf einer übernetürlichen, ideellen Vorstellung beruht haben, und   diese haben wir gefunden in dem Glauben, dass durch körperliche Berührung die Seele des Mannes dem Knaben in mysteriöser    Weise mitgetheilt wird54.

Ich sollte vielleicht sagen: durch Zauber, um damit nach Vorgang von K. Th. Preuss55 den Kreis sehr alter und urthümlicher Vorstellungen zu bezeichnen, die man nicht wohl Religion nennen mag, und doch als Quelle religiöser Begehungen und an Religion angelehnter Sitten betrachtet. Ich thue es nicht, weil ich glaube, in diesem Falle präciser reden zu dürfen. Wenn ich nun von Uebertragung der Seele spreche, so bin ich mir dabei  bewusst, dass dies Wort ‚Seele’ nicht ganz zutrifft, aber ich wüsste kein besseres.
Was den Körper belebt, was aus ihm spricht und handelt, haben die Menschen von jeher gesucht und immer wieder unter anderen Formen angeschaut und zu finden geglaubt. Hauch und Blut haben bei vielen Völkern, auch den Griechen als Seele gegolten: beide eignen nur dem lebendigen Körper, beide haben auch die Eigenschaft der Wärme, die den Leib mit dem Tode verlässt. Wir hören auch, dass andere warme Ausscheidungen des Körpers den Primitiven Anlass zu wunderlichen Vorstellungen gegeben haben, die sich, wenn nicht auf derselben Linie, doch auf paralleler, entwickelt zu haben scheinen. Preuss hat im Globus 85 (1904) S. 325 ff. und 415 f. nicht wenige Gebräuche zusammen gestellt, die auf dem Glauben beruhen, dass im Urin und Koth etwas Besonderes, Zauberheftes stecke56. Unter seinem Material begegnet eine bei den Anwohnern des Papuagolfes in Britisch-  

_______________________________________________________________________________

54Conon 33 erzählt von Branchos, dem Geliebten des Apollon: ο δε Βραγχοσ εξ Απολλωνος επιπνους μαντικος γεγονως εν Διδυμοις τω χωριω. Man könnte zweifeln, ob der Hauch oder die Liebe die Sehergabe dem Branchos mitgetheilt hat: bei Ioniern ist ersteres das Wahrscheinliche. Vgl. vorige Anmerkung. 55K. Th. Preuss ‚Der Ursprung der Religion und Kunst‘ im Globus 86 (1904) Nr 20 ff. Ich habe durch diese Ausführungen gelernt und Anregungen aus ihnen erhalten, doch möchte ich sie mir nicht zu eigen machen, am wenigsten die einseitige Herleitung aller Cultur    aus dem Zauber.  56Vgl. L. Blau: Des altjüdische Zauberwesen, Budapest 1898,  Jahresbericht der Rabinerschule S.162 (Wünsch). -—- Aus Australien nach Haldon im Archiv f. Relig.-Gesch. 1907, S. 144.   
 
_______________________________________________________________________________



S. 464

Neuguinea beobachtete Sitten; bei der Pubertätsfeier hatte der Knabe unter mannigfachen anderen Einweihungsceremonien, durch die er in die Reihen der Krieger aufgenommen wurde, rücklings am Boden liegend den Urin des Häuptlings zu trinken, den dieser, über ihm stehend, unmittelbar in seinen Mund hinabfallen liess. Der Sinn dieser eigenartigen Weihe kann nicht zweifelhaft sein: der Häuptling, der beste Held, theilt dem neuen Krieger von seinem ‚Zauber’ mit, von seiner Seele, seiner αρετη. Es ist ein erstaunliches, aber m.E. einleuchtendes Analogon zur dorischen Päderastie. Nur legen die Dorer dem männlichen Samen die Kraft bei, die jene im Urin suchen. Hier wie de flösst der Mann, und zwar der beste Mann, im handgreiflichsten Sinne dem Knaben etwas von seinem lebendigen warmen Leben ein; und hier wie dort geschieht das in feierlicher Weise am festlichen Epochentage der Aufnahme des Knaben in die Männergemeinschaft.

Da scheint mir das Dorische doch noch verständlicher zu sein. Denn dass zum primitiven Begriffe der Mannhaftigkeit auch eine starke geschlechtliche Fähigkeit gehöre, liegt auf der Hand58, auf Herakles braucht man nicht erst hinzuweisen. Und dass ein Zusammenhang zwischen geschlechtlicher Erregtheit und Kampfesmuth, Heldenstärke, Tollkühnheit besteht, kann auch heute noch den Grossstädter jeder ländliche Spaziergang zur Brunstzeit lehren, falls er es verschmähen sollte, an Menschen seines Culturkreises diese Beobachtung zu machen. Aus solcher Anschauung ist mit Recht der Brauch der Salomo-Insulaner erklärt, die ihrem Häuptling als Antheil am Kannibalenschmause den Penis bestirumen59. Und wenn der Sieger dem gefallenen Feinde das Geschlechtsglied abschneidet, so wird auch das von diesem Standpunkte aus verständlich. Die Spartaner haben es im 7.-6. Jahrhundert noch gethan, sicher gekannt60, wie es heute noch in Aethiopien und

_________________________________________________________________________________


57 J. Holmes Initiation Ceremonies of Natives of the Papuan Golf. Journ. Anthrop. Inst. XXXII (1902) S. 424. Ich konnte diesen Aufsatz nicht einsehen. 58 Preuss S. 415 B notirt: 'Von den Maori und anderen Polynesiern kennen wir direkt die Anschauung, dass zwischen Zeugungstüchtigkeit bezw. dem Zustande des Penis und grossem Muthe ein enger Zusammenbang bestehe (W. E. Gudgeon Phallic Emblem from Atin Island. Journ. Polynes. Soc. 1904 p. 209 sqq.)`. Vgl. auch Preuss S. 398. 59 Preuss S. 415B aus Andree: Die Anthropophagie S. 114, wo die Belegstelle freilich fehle. Zu der Vorstellung vgl. A.Dieterich, Mithras-Liturgie S. 101. 60Tyrtaios 10, 25 αισχρον ... κεισθαι ... ανδρα παλαιστερον . . .

_______________________________________________________________________________

S. 465   
    
Südafrika geschieht, und die Israeliten haben es zur Zeit Sauls und Davids61 in derselben Weise geübt wie die Indianer das   Scalpiren62. Man darf sagen, es ist undenkbar, dass nicht auch 

_________________________________________________________________________________


  
αιματοεντ' αιδοια φιλαις' εν χερσιν εχοντα erklärt von Dümmler Philolog. N. F. X 12 = Kleine Schriften II 220.  61Samuelis 18, 27. Saul verlangte von David als Morgengabe für seine Tochter ‚100 Vorhäute der Philister’. ‘Da machte sich David auf und zog hin mit. seinen Männern und schlug unter den Philistern  200 Mann. Und David brachte ihre Vorhäute dem König in voller Zahl, dass er des Königs Eidam würde. Da gab ihm Saul seine Tochter Michal zum Weibe.‘ Mein Giessener College Schwally, der Verfasscr der ‚Semitischen Kriegsalterthümer‘, dem ich den Hinweis auf diese Stelle verdanke, belehrt mich: 'orla heisst eigentlich Vorhaut, hier ‚vorhäutiger Penis‘, zur Charakteristik der also nicht beschnittenen   Philister im Gegensatz zu den Israeliten’. Es leuchtet ein, dass nicht Vorhäute als Trophäen von überwundenen Feinden geschnitten wurden, sondern die ganzen Penes.  62Aengstlich, gar zu luftigen Combinationen Ausdruck zu geben, die in diesen Gebieten so leicht sind und so zahlreich aus den Köpfen in Tinte und Druckerschwärze überwimmeln, möchte ich nur die Untersuchung einer Frage empfehlen, die ich bisher vielleicht nur aus Unkenntnis in dieser weiten Litteratur vermisse, nämlich ob nicht etwa auch der Phallus als Darstellung der Seele aufzufassen sei. (Seitdem hat auch Wundt Völkerpsychologie II 2. 10 ff. darauf hingewiesen, vgl.    seine ‚Anfänge der Gesellschaft‘ in seinen Psych. Stud. III 44.) Für die Menschen, die im semen virile die Seele sahen, musste doch der Phallus, zumal der erigirte, der Sitz der Seele sein. So ist der Kopf, aus dem die Seele im Hauch ausgeht, als Darstellung der Seele von Griechen verstanden worden. Das beweist Homer, der im Hades νεκυων αμενηνα καρηνα (κ 521. 536. λ 29.49) schweben lasst, und sein Vers  A 55  πολλας ιφθιμους κεφαλας Αιδι προιαψεν, wo such Aristarch so las (Schol. A), während er für den gleichen Vers A 5 gegen Apollonios und andere (Aristonikos in Schol. A) πολλας  δ‘ ιφθιμους ψυχας  las.  Vgl. Δ 162. Ρ 242. β 237. λ 74. ι 255. Die Münchner sf. Vase bei  Gerhard A V 223: Baumeister III S. 1902 stellt die Seele des Troilos, um dessen Leichnam gekämpft wird, als schwebenden Kopf dar. Zu meiner Freude hat G. Weicker in seinem ausgezeichneten Werke ‘Der Seelenv0gel’ S. 30 f. diese ihm von mir mitgetheilte Deutung aufgenommen und durch weitere bildliche Zeugnisse hekräftigt. Doch will ich nicht verschweigen, dass Loeschcke opponiert. bs. gegen die Deutung der Troilus-Vase, da auf der Amphore bei Gerhard A V 213  (Original in Bonn) der Kopf des Astyanax deutlich von Neoptolemos in der Hand gehalten werde, der ihn den Troern zuwerfen wolle. Des Troilos Kopf fliege schon. — Ebenso gilt das  H e r z  als Sitz der Seele auch im deutschen Volksglauben bis heute: hat doch der tiefe und  

_______________________________________________________________________________

 
[wird fortgesetzt] 


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen